Neue Forschungen zu Lateinamerika: Nachwuchstreffen der deutschen Lateinamerika-Historiker

Neue Forschungen zu Lateinamerika: Nachwuchstreffen der deutschen Lateinamerika-Historiker

Organisatoren
Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.10.2008 - 11.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Delia González de Reufels, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen

Das diesjährige Nachwuchstreffen der Lateinamerika-Historiker fand erstmals an der Universität Bremen statt und brachte Professoren und Dozenten aus Bielefeld, Bremen, Eichstätt-Ingolstadt, Hamburg, Köln und Münster sowie 30 Doktoranden zusammen, um aktuelle Forschungsprojekte und Forschungstrends der deutschen Historiographie zu Lateinamerika zu diskutieren. Eingeladen waren, wie auch bei den Nachwuchstreffen zuvor, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Professuren, die sich explizit mit der Geschichte Lateinamerikas von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart beschäftigen. Finanziell gefördert wurde die Nachwuchstagung durch die Gerda-Henkel-Stiftung, das Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen sowie durch den Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Bremen.

Anders als in den vorangegangenen Jahren wurden die Vorträge der Promovenden und die Diskussionen im Plenum ergänzt durch vier Workshops, die am ersten Tagungstag im Mittelpunkt standen und die von drei Professoren sowie einer Doktorandin geleitet wurden. In ihnen ging es um die kulturellen Dimensionen von Globalgeschichte (Stefan Rinke, Berlin), um Lateinamerikanische Geschichte als Geschichte des atlantischen Raumes (Ulrich Mücke, Hamburg), Postkoloniale Theorie und die Historiographie zu Lateinamerika (Delia González de Reufels, Bremen) sowie um Lateinamerika im Bild (Katrin Reinert, Köln).

Die Workshops dienten der Erweiterung der Methoden- und Theoriekompetenz und eröffneten die Möglichkeit, im Kreise der Doktoranden neue Ansätze und Themen zu erarbeiten bzw. kritisch zu reflektieren. Neu war ferner, dass im Rahmen der Workshops die Verbindungslinien aber auch bewusst die trennenden Elemente zu anderen Teildisziplinen der Außereuropäischen Geschichte (Asien, Afrika, Nordamerika) ausgelotet wurden. Auf diese Weise trugen die Workshops dem Wunsch der Doktoranden Rechnung, über den Standort der historischen Forschung zu Lateinamerika zu sprechen und Impulse aus anderen Forschungen zu außereuropäischen Räumen kritisch reflektiert aufzunehmen. Die gewählten Themen bzw. Theorien eigneten sich dazu in idealer Weise. Die Ergebnisse dieser gemeinsamen Arbeit flossen auch in die Diskussion der Dissertationsprojekte ein, die an den darauf folgenden Tagen im Plenum vorgestellt wurden.

Nach einer kurzen Eröffnungsrede des Dekans des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Bremen, Prof. Dr. Thomas Krämer-Badoni, der auf die Bedeutung von Nachwuchstreffen und auf die darin entfaltete Diskussionskultur hinwies, standen die Dissertationen im Mittelpunkt. Sie belegen ein gewachsenes Interesse an der politischen Geschichte Lateinamerikas und an der Zeitgeschichte. Während sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in den nationalen Historiographien Lateinamerikas die Frühe Neuzeit nach wie vor von Bedeutung ist, fehlten bei diesem Doktorandentreffen vergleichbare Arbeiten. Vielmehr ist die so genannte Sattelzeit und somit der Übergang von Kolonialzeit zu unabhängigen Staaten gegen Ende der Frühen Neuzeit von Interesse. Gleich zwei Projekte untersuchen diese Zeit in Nordmexiko und im Gebiet der Mapuche-Indianer, das heißt an der Peripherie des spanischen Amerika und somit in Räumen begrenzter spanischer Herrschaft (LASSE HÖLCK, MÓNICA CONTRERAS, Berlin) bzw. nehmen symbolische Formen der Kommunikation und Feste in Mexiko-Stadt in dieser Zeit des Umbruchs in den Blick (KATRIN DIRCKSEN, Münster). Das Interesse an symbolischen Repräsentationen und Formen der Herrschaftslegitimierung wird auch für die Zeit des Übergangs vom langen 19. Jahrhunderts zum 20. Jahrhunderts für Guatemala greifbar (FLORIAN PETERSEN, Köln).

Städten kam als Handlungs-, Ereignis- und Deutungsräumen bei dieser Tagung eine besondere Rolle zu. So wird lateinamerikanische Städteplanung im 20. Jahrhundert am Beispiel Quitos im Rahmen eines Dissertationsprojektes untersucht (ANJA MICHALSKI, Bielefeld), ist aber auch als Raum für die Formulierung einer transnationalen Latino-Identität von Interesse (FRAUKE BÖGER, Bielefeld). Als Heimat einer vermögenden und kosmopolitischen lateinamerikanischen Auslandsgemeinde wird wiederum Paris, die „Stadt der Lichter“, (JENS STRECKERT, Hamburg) erforscht. In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen, die auch bei der Untersuchung eines Ego-Dokuments, dem mehrbändigen Tagebuch eines in Peru lebenden deutschen Kaufmanns des 19. Jahrhunderts auftauchen und das als transkultureller Ort verstanden und untersucht wird (CHRISTA WETZEL, Hamburg).

Die Analyse von Diskursen steht im Mittelpunkt gleich mehrerer Projekte, welche sich auf die Katholische Kirche in Argentinien zur Zeit des orden conservador (THOMAS GERDES, Erfurt), auf deutsche Protestanten und ihr Schrifttum in Brasilien (FREDERIK SCHULZE, Berlin) sowie Gewalt-Diskurse in Kolumbien nach dem 2. Weltkrieg (LUKAS REHM, Bielefeld) konzentrieren. Dabei gingen indessen die Vorstellungen darüber auseinander, was Diskurse sind, wie sie zu untersuchen sind und was ihre Analyse leisten kann. Auch der Beitrag der Geographie zum argentinischen nation building und zum nationalen Diskurs ist Gegenstand einer aktuellen Untersuchung (CHRISTOPHER WERTZ, Erfurt).

Am letzten Tag des Treffens standen ferner die Analyse eines zwischenstaatlichen Integrationsprojektes im Andenraum (ANDREA STOHR, Bremen) und seine Bedeutung für eine theoretische Neuformulierung dieser politischen Prozesse im Mittelpunkt. Die mediale bzw. photographische Repräsentationen Lateinamerikas im 19. und frühen 20. Jahrhundert (KATHRIN REINERT, Köln) verwies ebenso wie das zuvor erwähnte Projekt darauf, dass bisher nur wenig oder gar nicht untersuchte Themen und Quellen die Lateinamerika-Historiker zwingen, sich neues Handwerkszeug anzueignen und andere methodische und theoretische Zugänge zu finden. Interdisziplinarität ist in diesem Zusammenhang keine modische Formel, sondern eine Notwendigkeit. Das gilt auch für die Untersuchung des medialen Wahlkampfes im Brasilien der Gegenwart (PETRA GREGOR, Köln).

Abschließend lässt sich festhalten, dass die deutschen Nachwuchshistoriker gegenwärtig große Offenheit und Interesse an neuen Ansätze und Methoden zeigen, während man den Lateinamerika-Historikern in der Vergangenheit vielfach Theoriefeindlichkeit nachgesagt hat. Dazu zählen auch theoretische Zugänge, die nicht von Lateinamerika-Historikern entwickelt wurden und die innerhalb dieser scientific community auch kritisch diskutiert werden, wie z.B. die Postcolonial Theory oder die Subaltern Studies.

Das nächste Treffen der deutschen Latinamerika-Historiker und -Historikerinnen wird in Bielefeld stattfinden.

Konferenzübersicht:

Workshops

Kulturelle Dimensionen der Globalgeschichte
Stefan Rinke, FU Berlin

Lateinamerika im Bild: Zur Verbindung von Geschichte und Photographie in der Neuen Welt
Barbara Potthast, Universität zu Köln (vertreten durch Kathrin Reinert)

Geschichte Lateinamerikas als atlantische Geschichte
Ulrich Mücke, Universität Hamburg

Postkoloniale Theorie und die Historiographie zu Lateinamerika
Delia González de Reufels, Universität Bremen

Politische Partizipation der indigenen Bevölkerung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts

Die Integration der Seri in Sonora, 1769-1865
Lasse Hölck, FU Berlin

Die politische Beteiligung der Pehuenche und Huilliche an der kolonialen und republikanischen Regierung: Der Verkauf von Sicherheit und das Handelsmonopol im Mapuche-Gebiet, 1760 – 1881
Mónika Contreras Saiz, FU Berlin

Kommentar: Ulrich Mücke, Hamburg

Städte als Handlungs-, Ereignis- und Deutungsräume

Indigene Alltagskultur und urbanes Stadtmarketing in Quito. (Post-)koloniale Auseinandersetzungen und Raumpraktiken im identitätspolitischen Feld
Anja Michalski, Universität Bielefeld

Politische Feste in Mexiko-Stadt (1786-1824)
Katrin Dircksen, WWU Münster

Die Hauptstadt Lateinamerikas, Lateinamerikaner in Paris im 19. Jahrhundert
Jens Streckert, Universität Hamburg

Kommentar: Thomas Fischer, Eichstätt-Ingolstadt

Transnationale und transkulturelle Ansätze

Das Tagebuch als transkultureller Ort bei Heinrich Witt, 1799-1890
Christa Wetzel, Universität Hamburg

Technische Eliten in Brasilien, 1870-1930: eine transnationale Perspektive
Georg Fischer, FU Berlin

Konstruktionsprozesse einer transnationalen Latino-Identität. Identitätspolitisches Alltagshandeln und Strategien sozialer Bewegungen in Washington D.C. 1960–2007
Frauke Böger, Universität Bielefeld

Kommentar: Silke Hensel, Münster

Kirchen und Gläubige als kollektive Akteure

Katholizismus, katholische Kirche und die Soziale Frage im Argentinien des orden conservador, 1880-1916
Thomas Gerdes, Universität Erfurt

Deutsche Protestanten in Brasilien. Eine Diskursgeschichte 1865-1945
Frederik Schulze, FU Berlin

Befreiungstheologie, Pfingstbewegung und Indigene Revitalisierung in Oaxaca, 1960 – 1985
Heiko Kiser, WWU Münster

Kommentar: Christian Büschges, Bielefeld

Diskursanalysen und Analysen der Integration und De-Integration

Boliviens Mitgliedschaft im Andenpakt. Akteure, Ideen und Interessen der Beteiligung an einem zwischenstaatlichen Integrationsprojekt des 20. Jahrhunderts
Andrea Nadine Stohr, Universität Bremen

Diskurse über Gewalt und Diskurse der Gewalt. La Violencia in Kolumbien, 1946-1964
Lukas Rehm, Universität Bielefeld

Symbolische Repräsentation und Herrschaftslegitimierung - Die Konstruktion einer guatemaltekischen Nationalidentität unter den ´liberalen Diktaturen´ 1871-1920/21
Florian Petersen, Universität zu Köln

Land schaffen – Nation bilden? Nationale Grenzen und grenzenlose Diskurse am Beispiel der geographischen Be-Schreibung der República Argentina, ca.1870-1945
Christopher Wertz, Universität Erfurt

Kommentar: Holger Meding, Köln

Medien als Mittel der Repräsentation, Manipulation und der Erinnerung

Sich (s)ein Bild von Südamerika machen. Fotografische Repräsentation der Vorstellungen deutscher Wissenschaftler von südamerikanischen Gesellschaften und Lebensweisen 1868-1930
Kathrin Reinert, Universität zu Köln

Demokratische Transformation und medialer Wahlkampf in Brasilien. Die Darstellungspolitik des Präsidentschaftskandidaten Luis Inácio Lula da Silva
Petra Gregor, Universität zu Köln

Kommentar: Antonio Sáez-Arance, Köln

Resümee
Delia González de Reufels, Bremen